© TOM Tom Wolf 



Thomas Wolf:
Pustkuchen und Goethe
Die Streitschrift als produktives Verwirrspiel
Verlag Max Niemeyer, 1999



Falsche "Wanderjahre"

Im Frühjahr 1821 waren viele Goetheleser irritiert: Eben hatten sie "Wilhelm Meisters Wanderjahre" gekauft, gelesen und bewundert, als es plötzlich hieß, das druckfrische Buch sei gar nicht von Goethe! Titel, Stil, Held – alles stimmte, nur ein Name fehlte auf dem Einband. Gleichzeitig mit Goethes Werk hatte ein Anonymus falsche "Wanderjahre" publiziert. Las man diese genauer, fanden sich Stellen, an denen erklärt wurde: Goethe fehle ein geistiges Zentrum, das ihn zur Darstellung wahrer Schönheit befähige, wie Winckelmann, Herder, Klopstock und Schiller sie gefordert hätten. In Goethe sei nichts Edles – er nutze sein Formtalent nur, um dem Publikum nach dem Geschmack zu schreiben. Goethe habe keinen Charakter und könne daher nur zerrissene Charaktere bilden: Werther, Faust – und es lag nahe: Wilhelm Meister. Ein starkes Stück! In der "Zeitung für die elegante Welt" rief der Angreifer zum Scherbengericht auf: Ich oder Goethe – entscheidet Euch!

Die literarischen Salons hatten ihre Sensation und ermittelten gegen Unbekannt. Jeder, der schon einmal Goethe kritisiert hatte, kam in Verdacht. Weitere Bände der falschen "Wanderjahre" erschienen, und wurden ausführlich besprochen. Goethe mobilisierte treue Rezensenten und drängte Cotta, die Hauszeitung an die Kandare zu nehmen, in der man dem Anonymus Beachtung zollte: "[D]as Literaturblatt werden Sie ja wohl auch gelegentlich mit ihrem werthen und würdigen Verlag in Einklang zu setzen wissen." Endlich ergossen sich tröge Schmeichelreden über die echten "Wanderjahre", und Varnhagens Goethe-Kreis legte sich lobhudelnd ins Zeug. Der Zürnende beruhigte sich über diese "Geneigte Theilnahme" wieder, auch wenn noch vereinzelt Lob für den Stil des Unbekannten laut wurde.

Viele juckte es insgeheim, jetzt gegen Goethe loszuziehen: Tieck, Immermann, Heine, Platen, Grillparzer und Jean Paul rechneten sich kühl ihre Chancen aus – und kniffen. Denn sie wussten: Wer sich öffentlich gegen Goethe stellt, ist des (literarischen) Todes. Immermann schrieb ein Trauerspiel zu Goethes Verteidigung, Tieck und Heine zeigten öffentlich ihren Abscheu vor dem – wie sie meinten – pietistischen Angriff. Die wenigsten, die von dem Buch redeten, hatten es gelesen.

Allein Fouqué trat in öffentlichen Dialog mit dem Kämpfer und gestand die Berechtigung einiger Goethe-Kritikpunkte zu. Daraufhin trug er Schimpf und Schande so dick davon, dass selbst Börne, der Goethehasser par excellence, Angst bekam, und auf eine geplante Verbrüderung mit dem Angreifer verzichtete. Der stand nun auf verlorenem Posten und wurde zu allem Unglück 1822 enttarnt. Friedrich Pustkuchen hieß er, war Pfarrer in Lemgo, Lyriker, Erzähler, Autor pädagogischer Schriften und Novellenherausgeber. Eine Welle der Schmähungen schwappte nun über ihn, die sich – ungeachtet der Maxime des Turnvaters Jahn, dass "kein echtdeutscher Name einer bösen Auslegung fähig" sei – an seinem Namen entzündete.

Platen, der insgeheim Goethe und den "Wilhelm Meister" mit Pustkuchens Argumenten herabwürdigte, tat sich besonders hervor: "Wolltest gern im Dichten deine Lust suchen, / Kleiner Pustkuchen! / Weil dir es nicht gelungen, musst du Leid tragen, / Kleiner Neidkragen! / O du Neidkragen! O du Pustkuchen!" Goethe selbst platzte der Kragen, als ein Buch mit dem Titel "Goethe und Pustkuchen" erschien, in dem die beiden "Wanderjahre" en detail nebeneinander besprochen wurden. Er schrieb 15 "Zahme Xenien" gegen Pustkuchen und nannte ihn u. a. "Schuft", "Pusterich","Laus", "Gezücht" und "Fluch-Dämon". Sein Name neben dem niedrigsten, das war für Goethe zuviel: "Pusten, grobes deutsches Wort! / Niemand – wohl erzogen – wird am reinanständigen Ort / solchem Wort gewogen."

Acht Jahre lang rang Goethe um Fassung. Dann ließ er, nachdem der fünfte und letzte Band des Pseudomeisters erschienen war, seinen Wilhelm noch einmal losziehen, als sei nichts geschehen. Freilich hatten ihm die "wunderlichen Schicksale" der ersten "Wanderjahre" auch poetischen Zugewinn gebracht. Der Goethe-Leser verdankt Pustkuchens anregender Initiative die Aphorismensammlungen in der zweiten Fassung der (echten) "Wanderjahre". Daher wird, wie Heinrich Heine formulierte, "auch Goethe nicht verhindern können, dass jene großen Geister, die er im Leben gern entfernen wollte, dennoch im Tode mit ihm zusammenkommen und neben ihm ihren ewigen Platz finden im Westminster der deutschen Literatur."

Titanic, Juli 2001. Humorkritik von Hans Mentz,
S. 50: Wust, Gestank und Grauen